Montag, 30. April 2012
Heute: Eine sentimentale Erinnerung
Heute mal wieder eine Geschichte von damals, denn manchmal blitzt im Alltag irgendeine Assoziation auf und führt einen zurück – und mich komischerweise fast immer in dieselbe Zeit, in die Mitte der achtziger Jahre.
Ich war Soldat und verbrachte die Sonntage gelangweilt auf dem blau-weiß karierten Bett, bevorzugte Lektüre: „neues leben“, die Bravo der DDR. Da verliebte ich mich – da andere Objekte nicht verfügbar waren - in eines der Mädchen aus so einem Heft, in ihre Lippen, ihre sehnsüchtigen Gedichte, ihren träumerischen Blick. Es war eine Förderpreisträgerin des FDJ-Poetenseminars.



Ihr zu schreiben, verbot sich natürlich, denn sie war in meinen Augen „berühmt“ und „DDR“, ich war ein Nichts und von meinen Vorgesetzten auch schon als Tunichtgut identifiziert. Ich schrieb ihr trotzdem, unter falschem Namen. „Ernst Kuhlbitter“ nannte ich mich, meinem sentimentalen Selbstverständnis folgend. Die Sensation war, dass – ein paar Wochen später, ich musste als „Gehilfe des Unteroffiziers vom Dienst“ in der Poststelle am Eingang der Kaserne die fehlerhaft adressierten, unzustellbaren Briefe durchsehen, ob da nicht was für unsere Einheit dabei war – dass da tatsächlich ein Brief für „Soldat Ernst Kuhlbitter“ lagerte. Sie schrieb mir wirklich nett zurück.
Die Freude dauerte nicht lange. Es gab eine Schrankkontrolle, der Brief wurde beschlagnahmt und ich des Diebstahls fremder Briefe bezichtigt. An eine Aufklärung des Irrtums dachten weder ich noch meine Vorgesetzten; es kam auch nicht darauf an, die Vorgänge überschlugen sich ohnehin. Nur dass ich mir über alldem die Adresse nicht richtig gemerkt hatte! Ich vergaß bzw. versuchte zu verdrängen. Aber als ich ein paar Monate später in einer richtigen Literaturzeitschrift ein paar Gedichte von ihr las, voller kryptischer Metaphern und Gestalten, und eine davon nannte sie „den einsamen Soldaten“ , da fühlte ich mich gemeint und schöpfte wieder Hoffnung.
Es ergab sich, dass ich bald darauf – ich war inzwischen unehrenhaft entlassen – beruflich in ihrer Stadt zu tun hatte. Ich durchforstete den Stadtplan, und als ich ihren Straßennamen las, erkannte ich ihn natürlich wieder. Kurz darauf stand ich vor ihrem Haus in der Vorstadt. Die Eltern öffneten. Ich erzählte irgendeine erfundene Geschichte und sie wunderten sich, dass ich von ihrer Hochzeit nichts gehört hatte. Sie gaben mir ihre Adresse in Berlin mit.
Ich war zerschmettert. Las immer wieder ihren neuen, ausländisch klingenden Familiennamen. Ich verfasste ein Gedicht des Inhalts, dass der böse Ausländer sie mir geraubt hätte, und heftete es an einen Baum in ihrem Viertel in Berlin. Bis vor ihre Haustür wagte ich mich nicht. Sondern beschloss für mich, dass diese Berliner Szene-Typen mich nicht interessieren. Dass das sowieso alles Stasitypen sind, wie mein Vater auch immer meinte. Verliebte mich stattdessen in ein Mädchen mit ebensolchen sinnlichen Lippen, einer ebensolchen süßen Mädchennase, nur hatte die keinen Ausländer zum Heiraten, sie stellte einen Ausreiseantrag. Es ergriff eben jede(r) den Strohhalm, der zu kriegen war. Ich blieb wieder allein.
Und warum mir das heute wieder einfällt? Weil ich heute müßig und allein zu Hause rumsaß, schon am Vormittag im Fernsehen rumzappte und natürlich bei einem Interview mit einer dieser Ex-DDR-Dissidenten hängen blieb. Als ich das dann schnell im Internet nachrecherchieren wollte, stieß ich unvermutet auf den Namen des einst verhassten Ausländers. Und musste feststellen, dass er wohl ziemlich privilegiert, aber alles andere als ein Stasityp gewesen ist. Obwohl auch er zusammen mit zusammen mit seiner Frau, eben ihr, so eine Underground-Zeitschrift rausgegeben hat damals in der DDR. Ist schon ganz in Ordnung, was die beiden gemacht haben. Auch wenn es schmerzt zu sehen, wie sie spannende Zeiten erlebten in den späten Achtzigern, während ich und alle, die ich kannte, in Frust und Illusion und Chaos fast ertranken.
Eigentlich wäre es jetzt Zeit, von diesen Erinnerungen Abschied zu nehmen. Sich ein eigenes Leben zu gestalten, so wie die beiden es schon damals taten. Die Bodenhaftung hätte ich inzwischen, nur ... das Fliegen hab ich verlernt.

... comment

 
Ihre Geschichte könnte man fast schon verfilmen, oder vielleicht noch besser – eine kleine Novelle daraus schreiben.

Es ist merkwürdig, ich bin ja gar nicht in der DDR aufgewachsen und trotzdem habe ich ein Art Hass gegen das Regime. Es sträuben sich mir einfach alle Nackenhaare, wenn ich mir vorstelle, dass man seine Gedanken nicht frei äußern darf. Für mich wäre dies in der Pubertät gar nicht vorstellbar gewesen. Und da ich das Glück hatte, in einer Zeit zur Schule zu gehen (jedenfalls ab Gymnasium), in der die ersten 68er Lehrer unterrichteten, gab es zu keiner Zeit auch nur den Hauch einer Unterdrückung. Pubertät ohne die Möglichkeit des Aufbegehrens ist eigentlich gar nicht vorstellbar. Obwohl wir ja jetzt wiederum in einer Zeit leben, in der es für Jugendliche schon fast gar nicht mehr möglich ist, aufzubegehren, weil ja fast alles erlaubt ist, bzw. sich niemand mehr darum kümmert.

Aber zurück zu Ihrer Geschichte. Haben Sie auch jetzt noch mal versucht, etwas über diese Frau herauszufinden, die Sie so verzaubert hat? Durch das Internet kann man ja jetzt fast jeden wiederfinden. Dieses wunderschöne Bild, ist es nur irgendein Foto, das der besagten Frau ähnelt, oder haben Sie tatsächlich den Ausschnitt aus der DDR-Bravo aufbewahrt?

... link  

 
Natürlich habe ich das Heftchen aufbewahrt und das Foto da rausgescannt. Ich finde, das Körnige der Vergrößerung passt ganz gut zu meiner Geschichte. Ja, und natürlich hab ich im Internet nachgeguckt. Aber was interessiert die reale Frau? Es ist doch jetzt nur noch eine Geschichte. Und die wird immer körniger. Vielleicht sollte ich wirklich eine Novelle draus basteln.

... link  


... comment
 
Herzlichen Dank für die Geschichte. (Ich glaube allerdings nicht so ganz, dass Sie das Fliegen verlernt haben, schließlich haben Sie sich erinnert.)

... link  


... comment
 
Erinnerungen
Auch für einen Ausländer wie mich ist dies eine sehr interessante spannende Geschichte. Und gerne hätte ich auch das am Baume geheftete Gedicht gelesen!
Übrigens, die Idee Abschied zu nehmen von Erinnerungen kann man besser vergessen. Die Erinnerung wird bleiben.
Gruß, T.

... link  

 
Als ich im Halbschlaf Bahnlärm hörte
vom Postenturm und es war kalt,
als dein Lied nur mir, nur mir gehörte
und mich nur der Perlenfischer störte -
warst du schon in ***s Gewalt?

Du hattest gut zu sein begonnen,
doch Stöcke gibts in hellen Scharen
und über Stock und Docht und Haaren
vergaßt du wohl das Netz der Sonnen?

(Die erotischen Symbole hab ich mir natürlich aus ihren Gedichten zusammengeklaubt.)

... link  


... comment
 
Ihre Geschichte ist deswegen so beeindruckend, weil wir in einer durch und durch unromantischen Zeit leben, in der Liebe nichts Zartes und Geheimnisvolles mehr hat.

... link  


... comment
<