Mittwoch, 16. März 2011
Warum ist das, was schrecklich ist, eigentlich immer besonders spannend? (Rezension meiner aktuellen Lektüren)
Das fragte gestern mein Sohn, der die Frühjahrsferien bei seinen politikbegeisterten Großeltern verbringt und zu jeder Mahlzeit von diesen ehrlich entsetzte Kommentare zur jeweils aktuellen Weltkatastrophe erhält. Ja, warum eigentlich? Warum ist der Freiheitswillen des lybischen Volkes gestern ein Grund, gebannt auf den Fernsehschirm zu starren, aber heute explodiert ein Atomkraftwerk in Japan und Lybien ist vergessen? Meine Eltern würden hier sicher widersprechen, natürlich sind ihre Gedanken „auf Seite 2“ immer noch bei Lybien – und bei den Palästinensern sowieso, wo schon wieder illegale Häuser errichtet werden. Aber das blanke Entsetzen, das immer da ist, das kann immer nur an einem Ort sein, und das ist eben im Moment Japan.
Zum Glück funktioniert Literatur nicht immer so – und damit wäre ich bei der Besprechung meiner derzeitigen Lektüren. Ich hatte mir nämlich letztes Jahr anhand des Feuilletons ein paar Wunschbücher zusammengesucht und mich dann zu Weihnachten beschenken lassen. Da ich derzeit nur abends im Bett ein paar Minuten zum Lesen komme, gehörten der Januar und der Februar vollständig Melinda Nadj Abonjis „Tauben fliegen auf“, dem autobiografisch gefärbten Roman über zwei ungarisch-stämmige Schwestern aus der jugoslawischen Vojvodina, die als Kinder mit ihren Eltern in die Schweiz auswandern, den Jugoslawien-Krieg nur noch von außen, als Entronnene, durch unsichere Nachrichten aus der verlorenen Heimat, mitbekommen. Da geriet ich am Ende tatsächlich wieder in die oben beschriebene Politik-Falle: Ich ließ mich zwar hinreißen vom ungelenk-schwungvollen Charme des balkanesischen Wortschwalls (der Titel „Tauben fliegen auf“ charakterisiert diesen deutlich), war gerührt von der eindringlichen Darstellung, wie es ist, in der Fremde zu leben (wo ja niemand, auch der nicht der coolste Wirtschaftsflüchtling, als der der Vater der Familie sich gern ausgibt, ganz freiwillig ist) ... Ich ließ mich rühren und blieb dennoch unzufrieden, weil man so rein gar nichts erfährt über die Vorgänge in Jugoslawien – und dann auch noch verspottet wird, weil man das wissen will: „und wahrscheinlich würde Herrn Tognoni, Herrn und Frau Berger und die Schärers das, was ich von meinem Land erzählen wollte, nicht interessieren, es wäre gut möglich, dass sie mich etwas verlegen und mitleidig anschauen würden: Fräulein, wir dachten da an etwas Anderes, wir wollten etwas über die Kultur, die Geschichte, die Sprache, die Probleme erfahren – und nicht über die Luft zwischen den majestätischen Pappeln und Akazien, die winzigen Blumen, die zwischen den Pflastersteinen wachsen, ...“ (S. 241). Dabei hätte die Geschichte durchaus Anlass gegeben, gesellschaftlich konkreter zu werden: Der Cousin der Ich-Erzählerin wird zum Kriegsdienst gezwungen und abgeführt - und verschwindet einfach aus der Geschichte. Das ist realistisch, aber lässt den Leser unbefriedigt. Es bleibt eine Leerstelle.
Vielleicht hängt es auch mit dieser Leerstelle zusammen, dass die Erzählerin sich später in einen offenbar traumatisierten Jungen aus Sarajewo verliebt. Aber auch der erzählt nichts. Verständlich, aber unbefriedigend. Was bleibt, ist das hilflose Mitgefühl der Erzählerin, z. B. gegenüber ihrem Vater: „einen Moment lang schaue ich meinem Vater in die schutzlosen Augen, und ich würde gern einen Trost finden, mein Herz würde ihn gern geben, diesen Trost, jetzt, da mein Vater ein hilfloses Kind ist, aber ich, ich bin auch ein hilfloses Kind, seines, wenigstens das würde ich ihm gern sagen, ich stehe auf, verschwinde rasch in Richtung Toilette.“ (S. 163).
Welche Größe in dieser Selbstbescheidung liegt, in diesem Verzicht, die Schrecklichkeiten alle zu benennen, das begriff ich erst, als ich zum nächsten Buch griff: Sofi Oksanen „Fegefeuer“, Thema: eine andere Menschheitskatastrophe am Rande des russischen Imperiums: Estland zwischen den dreißiger Jahren und heute. Hier wird alles deutlich ausgesprochen, überdeutlich sogar. Jedes Verbrechen, jede Gemeinheit. Selbst die Fliege, die auch das Cover des Buches ziert, fliegt in ausführlich beschriebener Scheußlichkeit durch die Küche der Protagonistin und legt ihre Eier in jedes erreichbare Stückchen Fleisch. Diese Erzähltechnik lässt den Leser in Schockstarre verfallen, gebannt das Geschehen verfolgen. Zumal immer irgendetwas passiert – Spannung garantiert. Aber ehrlich gesagt: Historisch Neues erfährt man trotz Überdeutlichkeit nicht – dass erst die Russen die Esten deportierten, dann die Deutschen die Juden, dass erst die Kommunisten die national gesinnten Esten, dann diese wiederum die Kommunisten verfolgten und dass heutzutage mafiöse Organisationen, die sich teilweise auch aus ehemaligen KGB-Leuten rekrutieren, den Menschenhandel von Russinnen zur Prostitution nach Deutschland organisieren, das ist eigentlich schon bekannt. Das Wie hätte mich interessiert. Aber Psychologie ist nicht die Sache der Autorin. Das ärgert mich. Und dennoch: Ich bin erst bei der Hälfte, ich werde weiterlesen, wahrscheinlich sogar schneller als Nadj Abonji. So funktioniert es eben, das Geschäft mit dem Schrecken.

... comment

<