Dienstag, 21. September 2010
Adäquate Elaborate
Zweimal schon in meinem Leben geriet ich in grundsätzliche Verzweiflung, sah alles zusammenbrechen und wusste keinen Ausweg mehr: als Soldat und später als Referendar. Jetzt fiel mir bei der selbstverliebten Durchsicht alter Tagebücher auf, dass ich in beiden Fällen (unter anderem) zu einem letzten Mittel der Selbstbehauptung griff: Ich kopierte Auszüge des gedruckten Schwachsinns, der da über uns ausgeschüttet wurde, in mein Tagebuch. Und da das nun alles lang her ist und die Ergüsse der einst übermächtig geglaubten Gegner heut keiner mehr ernst nehmen würde, kann ich sie hier ja getrost zum Schmunzeln darreichen.
Also erstens: Die „Junge Welt“, das Kampf-, Stürmer- und Hetzblatt der DDR (es ist ein Witz der Geschichte, dass die nette „Wochenpost“ bald nach der Wende unterging, der teilweise noch erträgliche „Sonntag“ immerhin im „Freitag“ aufgehen konnte, die „Junge Welt“ aber noch heute Erfolge feiert, als hätte es 1989 nie gegeben), ich hab sie als Soldat aus Langeweile tatsächlich gelesen, und was ich da las, das war ein Hohn:

Warum sich Torsten Krause aus der 12/2 der Jüterboger Goethe-Oberschule selbst hartnäckig in die Pflicht nimmt
Gerade 18, noch auf der Schulbank — und schon Genosse werden wollen? Torsten Krause aus der 12/2 der Jüterboger Goethe-Oberschule hat zu so einer Frage seine eigene Meinung: „Ob ich als FDJler bisher Vorbild war und konsequent meiner Verantwortung gerecht werde, ist nicht das entscheidend? Als Genosse die gute Politik der SED tatkräftig zu verwirklichen, das ist doch keine Frage des Alters. Das hängt vor allem davon ab, wie man sich einsetzt für die von der Partei beschlossenen Ziele." Und der freundliche Junge ist einer, der sich selbst hartnäckig in die Pflicht nimmt. Davon zeugt das, was der FDJler in der Grundorganisationsleitung der Schule als Verantwortlicher für die GST-Arbeit und die Ordnungsgruppe leistet. Eine Zeitlang lief die praktische Ausbildung der Ordnungsgruppen nicht. Torsten fand sich damit nicht ab, klopfte im Volkspolizeikreisamt um Unterstützung an.
So konsequent ist er auch in der Ordnungsgruppe. Wen wundert's, daß die noch bei jedem Einsatz gestanden hat wie eine Eins. Nur für Torsten selbst brachte das auch ein Problem. Durch diese Aufgabe ganz schön gefordert, ließen Ende der 11. Klasse seine Leistungen nach. Für den FDJler war das ein Signal, sich vor allem auf seine Verantwortung beim Lernen zu besinnen. Er lernte fortan intensiver, konzentrierter, steuert nun sein Abitur mit „Auszeichnung" an.
Wie ernst es Torsten mit seinem Anspruch ist, davon kündet auch der Entschluß, Politoffizier zu werden. „Die Politik der SED war und ist immer auch Friedenspolitik. Und weil angesichts der Konfrontationspolitik der NATO ein zuverlässig geschützter Sozialismus wichtiger denn je ist, ist der Beruf des Offiziers jetzt das Notwendige, das mir .Gemäße." Darin bestärkt wurde er nicht zuletzt von den Genossen in seiner Familie.

Nicht viel erträglicher jedoch die sich wissenschaftlich und progressiv dünkenden Ergüsse der 70er-Jahre-Didaktik. Hier ein Beispiel aus dem Jahr 1976, das ich 1996 noch als ernstzunehmende Grundsatzliteratur durchzuarbeiten hatte:

III. Die Bildbesprechung
1. Sprachdidaktischer Ansatz
Medium der Bildbesprechung ist die Sprache. Ihre Anwendung im Unterricht erfordert didaktische Reflexion. Zentrale Überlegungen sind folgende:
- Sprache im Sinne von Sprachverwendung (Performanz; parole) ist das wichtigste menschliche Kommunikationsmittel.
— Sprache im Sinne von Sprachbesitz (Kompetenz; langue) vermittelt historische Gehalte. [8] In diesen erschließt sich gesellschaftliches Bewußtsein bzw. erschließt sich dem Bewußtsein gesellschaftliches Sein.
- Sprache im Sinne von Kompetenz und Performanz intendiert Mündigkeit im menschheitsgeschichtlichen wie im individuell-biographischen Prozeß.
- Sprache besitzt demgemäß eine emanzipatorische und eine kompensatorische Funktion.
- Sprachliche Kompetenz ist (zentraler) Bestandteil kommunikativer Kompetenz.
- Beide Kompetenzen, die umfassende kommunikative und die spezielle linguistische, werden beeinträchtigt, wenn eine restriktive Sprachnorm die kommunikative Adäquanz der Äußerung beschneidet.
- Eine theoretisch bewußte Sprachdidaktik, die auf Mündigkeit zielt, d. h. emanzipatorische wie kompensatorische Interessen aufnimmt, muß zur Entwicklung und Förderung allgemeiner kommunikativer Kompetenz Sprache auf der Basis der kommunikativen Adäquanz anwenden (lassen).
- Die Schul- und Bildungssprache ist im bewußten Lernprozeß auf der Grundlage der Sprache kommunikativer Adäquanz zu elaborieren [9].

Ihr seht: Die Hetze, die Selbstüberschätzung, den Schwachsinn, das gab es schon immer, das haben nicht erst Sarrazin erfunden oder Broder. Und es wird vermutlich auch nicht mit ihnen untergehen. Der Dreck schwimmt halt immer oben.
... so weit mein Jahrzehnte verspäteter Hassausbruch.

... comment

<