Dienstag, 10. November 2009
Anekdoten aus dem Untergangsjahr der DDR, Teil 2
Zurück in (Ost-)Deutschland war nicht nur die ganze DDR in Aufruhr, es war auch der Ausreiseantrag meiner Freundin genehmigt, ihr DDR-Pass ungültig, aber die beantragte Einreise nach Großbritannien blieb ihr versagt, da sie kein EU-Bürger war. Und ohne diese traute sie sich nicht, die „einmalige Ausreise“ zu wagen, sondern versuchte, es irgendwie legal hinzukriegen.
Am 7. Oktober wollten wir beide uns um die Ecke noch Kuchen für den Nachmittagskaffee holen und gerieten in eine absolut schräge Situation: Bereitschaftspolizisten kamen in breiter Front die Fußgängerzone herunter und drängten Demonstranten zurück, während gleichzeitig klammheimlich Seitenstraßen abgeriegelt wurden. Aus der schreckerstarrten Menge (sowas hatte bisher kein DDR-Bürger erlebt) rief ein einzelner Mann: „Ihr Kommunistenschweine!“, ein Wort, das ich überhaupt noch nie gehört hatte. Ein Agent provocateur, da war ich mir ganz sicher. „Kein guter Ort.“ murmelte meine Freundin. Wir zogen uns zurück zum Kaffeetrinken. Den Rest kann man in Geschichtsbüchern nachlesen.
Dann kam der 9. November und dann war meine Freundin fort. Wir hatten verabredet, uns im Frühjahr in Hamburg zu treffen. Ich las begeistert Arno Schmidt und bewarb mich in Hamburg um ein Lehrerstudium. Ein ganz normaler Westdeutscher wollte ich werden.
Die letzten Wochen in Greifswald: Ja, ich nahm an Demonstrationen teil, das war ja irgendwie moralische Pflicht. Aber es interessierte mich nicht. An der Uni meldete ich mich ordentlich ab. Mein Professor H., bei dem ich in einer Studenten-AG mitgearbeitet hatte, jammerte, als ich mich verabschiedete: „Da hat man immer alles getan für die Partei. Und jetzt lassen sie einen so im Stich!“ Ich konnte wenig Mitgefühl aufbringen. Meine Institutschefin, vor der ich mich nun wirklich etwas schämte – immerhin hatte ich meinen Studienplatz auch ihrem geschickten Taktieren zu verdanken – die meinte nur: „Das machst du richtig! Mein Tochter traut sich ja nicht.“ Und Prof Z., der einzige, in dessen Lehrveranstaltungen wir immer begeistert gingen, verkündete in der letzten Vorlesung vor den Weihnachtsferien, dass er im Januar zu seiner Tochter in den Westen ziehen und sich dort zur Ruhe setzen werde.
Zu Silvester war ich allein in Potsdam, in der Wohnung meiner Eltern. Ich glotzte Fernsehen, aber irgendwann ging ich doch raus. Lief hoch zum Schloss Sanssouci auf die Terrasse, von wo alle immer das Feuerwerk begucken. Und wurde errettet: Irgendein Mädchen küsste mich um Mitternacht und nahm mich mit auf eine Party in der Gregor-Mendel-Straße. Eine leer stehende Gründerzeit-Villa, vermutlich ein besetztes Haus. Es lief, soweit ich mich erinnere, Punkmusik, jedenfalls war es laut und voll. Am Buffet musste man bezahlen, mit Ost- oder mit Westgeld, als Umrechnung war 1:4 angesetzt. Als es draußen hell wurde und drinnen ruhig, traf ich meine Gönnerin wieder. Und nun? war die Frage. „Also, ich gehe jetzt.“ sagte ich. „Wohin denn?“ fragte sie. „In die Sch.-Straße“ Sie wollte sich ausschütten vor Lachen. Und hatte Recht. In der Sch.-Straße bin ich nur noch ein paar Tage geblieben, dann ging ich weg, nach Hamburg. Aber auch in Hamburg blieb ich nicht lange. Das mit dem normalen Wessi, das wurde nichts. Arno Schmidt flog in die Ecke, ich las wieder E.T.A. Hoffmann. Aber das ist eine andere Geschichte.

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