Dienstag, 26. September 2023
Ich probiere einen gewagten Vergleich
Ich lese gerade „Über den Kolonialismus“ von Aimé Césaire. Das ist schon in den 1950er Jahren erschienen, ich hätte den Text kennen sollen. Aber auch meine Aufmerksamkeit folgt oft nur aktuellen Trends, leider. Nun gut, besser spät als nie.

Cèsaire hat den sehr interessanten Gedanken, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus uns so sehr schockieren, weil die Brutalität und Menschenverachtung der Moderne, die bisher nur die Kolonisierten in der Dritten Welt zu spüren bekamen, nun erstmals auch Vertreter der weißen Rasse erreicht. Wie wahr.

Das zeigt sich auch an anderen, aktuelleren Phänomenen. FIAN, bei denen ich Fördermitglied bin, unterstützt seit Jahren vertriebene Kleinbauern in Sambia, vertrieben durch den größten Agrarinvestor in Afrika, eine Berliner Firma (die ihre Steuern in Luxemburg zahlt und ihr Konto auf den Caimon-Inseln angelegt hat). Damit sage ich Ihnen sicher nichts Neues: Auch wenn mensch den konkreten Fall nicht kennt – wir wissen doch alle, dass es so läuft, und schauen weg.

Und da das mit dem Wegschauen bisher so gut geklappt hat, versuchen sie es nun auch hier in Deutschland: Die Aldi-Erben und die Besitzer von KiK investieren jetzt in deutsches Ackerland, verdrängen die Einzelbauern (jedenfalls die von ihnen, die ihr Land noch selbst besitzen). Na ja, zur Not können wir auch hier schauen, wir leben ja in der Stadt und sehen nicht, auf wessen Acker das Gemüse gewachsen ist, das wir essen.

Wegzuschauen gelingt es uns nur dann nicht, wenn die dunkelhäutigen Menschen in unseren Städten auftauchen. Lang genug profitierten wir von den Gewinnen, die skrupellose Unternehmen (in der Phase der Moderne dann auch staatlich gestützt) in der Dritten Welt machten – wir waren ja nicht schuld daran, wir sahen es nicht. Jetzt sind die dortigen Wirtschaftsverhältnisse immer noch nicht intakt, das Klima ist es zunehmend weniger, aber die Mobilität hat zugenommen, die Möglichkeit, sich von dort wegzubewegen, wo man für sich und seine Kinder keine Zukunft sieht. Also kommen sie.

Das System, von dem wir uns ernähren, ist krank. Was uns ernährt, unsere Wirtschaft, macht uns satt, aber auch krank. Wir schütten das Gift in uns rein, jetzt erscheinen die Wunden auf unser schönen weißen Hautoberfläche. Die Rechten empfehlen: absperren. Pflaster drauf, Verband drumwickeln, eine Mauer errichten. Was drunter schwärt, ist uns egal. Die Linken sind netter, sie reinigen die Wunde, machen Salbe drauf, damit es nicht so wehtut. Sie kümmern sich um die Leute, sofern sie schon hier sind, bei uns auf der weißen Hautoberfläche. Darunter brennt die Entzündung weiter.

Solange wir das Gift nicht stoppen, wird es schlimmer werden. Welche Regierung verbietet Finanzinvestoren, Bauern zu verdrängen, sei es in Sambia oder in Schleswig-Holstein?

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Schein-Debatte
Wahrscheinlich haben Sie es gar nicht gehört, da es so nebensächlich ist und blieb – ich schon, denn ich interessiere mich für DDR und für Literatur, und so erfuhr ich auch, dass die in Westdeutschland geborene Autorin Charlotte Gneuß einen Roman geschrieben hat, der in der DDR der siebziger Jahre spielt.

Sandra Kegel nahm das zum Anlass, in der FAZ zu fragen „Darf sie das?“ - und sogleich laut „ja“ zu rufen, wohl wissend, dass auch niemand etwas anderes behauptet oder gefordert hat. Wie kam sie also auf die abwegige Frage? Nun, der ostdeutsche Schriftsteller Ingo Schulze hatte ihm Vorwege der Veröffentlichung und offenbar in bestem Einvernehmen mit der Autorin das Manuskript des Romans gelesen und als Zeitzeuge einige Anmerkungen gemacht. Diese Anmerkungen gelangten auf merkwürdigen Wegen an die Jury des Deutschen Buchpreises, wo Gneuß‘ Roman auf den vorderen Plätzen mitspielt. Jury-Mitglied Katharina Teutsch (FAZ) machte den Vorgang öffentlich, sodass Kegel das zum Anlass nehmen konnte, Schulzes Anmerkungen zu einer philiströsen Meckerei an einem Kunstwerk aufzublasen.

Alle Feuilletons berichteten natürlich, aber niemand wollte sich so recht auf eine Debatte einlassen. Gerrit Bartels fragte im Tagesspiegel zu Recht, was das ganze Spiel nun sollte. Das frage ich mich auch. Ging es darum, wie es Bartels für möglich hielt, Gneuß‘ Buch von der Shortlist zu verdrängen (um Platz für den anderen zur Verfügung stehenden DDR-Roman zu schaffen, den mit der, so scheint es, konsequenteren Anti-DDR-Ideologie) oder doch umgekehrt darum, Gneuß‘ Roman die nötige Aufmerksamkeit zu verschaffen? Oder sollte nur der Ruf von Ingo Schulze ein bisschen beschädigt werden? Oder Dirk Oschmanns bitter wahres Diktum von Ostdeutschland als westdeutscher Erfindung?

Vielleicht ja gar nichts von alldem und es sollten nur die Seiten im Feuilleton gefüllt werden. Wenn dieses Letztere der Fall wäre, wäre das sehr schade, denn Sie sehen an meinem Text, wie viele hässliche Gedanken das unten in der Bevölkerung erzeugt, wenn oben nur ein ganz kleines bisschen gemogelt wird, um eine Debatte zu erfinden.

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