Dienstag, 27. Mai 2014
Der Wohnsaal als Statussymbol
Zum ersten Mal sah ich einen solchen Saal bei J., Ende der 80er in Berlin-Friedrichshain. Das war eine langbeinige Szenefrau mit Hennahaar und Lederhosen, sie lebte auch ganz illegal vom privaten Schneidern und Verkaufen solcher Hosen. Irgendwie hatten sie und ihr Freund es zu einer 4-Zimmer-Wohnung in einem gründerzeitlichen Mietshaus nahe der Karl-Marx-Allee gebracht, und bei den beiden Zimmern nach vorne raus, da hatten sie die Zwischenwand rausgerissen, so dass ein vierfenstriger Saal entstand, in dem man schlief, aß, herumsaß oder feierte. J. residierte da prinzessin-auf-der-erbse-mäßig: feudal in proletarischem Ambiente.
Vermutlich war J.s Wohnidee nur eine späte Reaktion auf Westberliner Fabriketagen zehn Jahre vorher, aber das weiß ich nicht genau – ich hab nur bei E. S. Özdamar und S. Regener davon gelesen. Es hielt auch nicht lange: Die 90er kamen und der Kommerz. Szene-Fiesling A. stand eines Tages stolz in der Wohnung: „Ich hab einen A4! Ich hab einen A4!“ J. sah aus den Fenstern ihres Saals und witzelte: „Ich seh hier keinen R4!“ Kurze Zeit später wurden die Eigentumsverhältnisse geklärt, J. musste ausziehen.
Und vielleicht war auch das eine Reaktion auf die Fabriketagen, eine westdeutsch-bürgerliche halt: dieser 70er-Jahre-Bau nahe der City Nord in Hamburg, wo Y. wohnte, als sie hier beim Fernsehen arbeitete: ein Saal mit Glaswand und Balkon (Schreib- und Esstisch sahen ziemlich verloren aus darin), dazu eine winzige Küche, in der man kaum mehr als Tütensuppen zubereiten konnte, und ein ebenso winziges Schlafzimmer (das Doppelbett füllte es vollständig aus) sowie eine Duschzelle - eine Single-Wohnung für den Feierabend, die Nacht und gelegentliche Partys, warum nicht?
Später wird man dann erwachsen. J. wohnt schon lange nicht mehr in Berlin, sondern mit ihrer Tochter in einer Kleinstadt an der Ostsee. Und Y. arbeitet nicht mehr in Hamburg, sondern in der Hauptstadt, sie hat sich eine Villa in Babelsberg gekauft. Ich hab zu beiden keinen Kontakt mehr. Nur der Wohnsaal, der ist plötzlich wieder da.
Ja, es ist schon komisch, dass diese sympathisch überspannte Jugend-Architektur-Idee, der Wohnsaal als Ausdruck eines individuellen Freiheits- bzw. Freizeit-Anspruchs, neuerdings vermehrt in ganz normalen Mittelstands-Mietwohnungen auftaucht, wo sie auf den ersten Blick überhaupt keinen Sinn ergibt.
Ich erwähnte schon, dass unsere Genossenschaft uns unsere Wohnungsgenossenschaft neulich eine derartige Wohnung anbot. Jetzt ist auch N., eine Freundin meiner Frau, in so eine Wohnung gezogen. Für sie allerdings passt es: Sie ist alleinerziehend mit Kind. Betritt man ihre neue Wohnung, dann fällt man von der Wohnungstür direkt in einen großen Saal, zu dem auch eine Küchenecke gehört und von dem ein großer Balkon in den begrünten Innenhof mit abgeht (letzterer meines Erachtens der schönste Ort in der Wohnung). Außerdem gehören zu der 90m²-Wohnung noch zwei Zimmer zur Straße raus sowie zwei(!) kleine Bäder ohne Fenster. („Na ja, wenn meine Tochter dann in die Pubertät kommt ...“, meinte N. zu diesem Luxus.) Für zwei Personen eine sehr schöne Wohnung. Natürlich teuer. Ich frage mich nur, weshalb es dafür nun einen Architekturpreis gab: 90m², die man mit mehr als zwei Personen nicht mehr vernünftig bewohnen kann, ist das nicht ein bisschen dekadent?
Als die Leute vor hundert Jahren in viel kleineren Wohnungen leben mussten, da sehnten sie sich nach mehr Platz. Berühmt geworden ist Virginia Woolfs Essay „A Room of One’s own“, der deutlich machte: Wo kein Platz ist für Privatsphäre, da ist kein Platz für Individualität. Tja, und jetzt haben wir diese Wohnungen, von deren stattlicher Größe Menschen unseres Standes vor hundert Jahren nur träumen konnten – und es fehlt immer noch der Platz für den eigenen Raum. Warum?
Vielleicht erhellt das der Blick in eine weitere Wohnung. N. meinte nämlich: „Da wird eine Wohnung frei bei uns im Hof, die brauchen dringend einen Nachmieter. Vielleicht habt ihr ja Interesse? Ist ganz hübsch, auf zwei Etagen. ... Ja, ganz tragisch, er arbeitet wissenschaftlich, es hat nie geklappt mit einer festen Stelle, und sie verdient gar nichts, ist mit den Kindern zu Hause, engagiert sich außerdem ehrenamtlich. Jetzt geht er auf die Fünfzig und kriegt die Panik ...“ Na, jedenfalls hat er eine Stelle in Bremen angenommen, obwohl er sie irgendwie als unter seiner Würde empfindet (Gymnasium? Fachhochschule? Irgendsowas.), und die Familie zieht weg. Wir durften uns die Wohnung ansehen.
Auch diese Besichtigung beginnt damit, dass man ohne Flur gleich auf die Küchenzeile zustolpert, die Garderobe im Küchendunst. Aber davon mal abgesehen, macht die Wohnküche einen gemütlichen Eindruck. Das Zimmer dahinter: der unvermeidliche Wohnsaal, mit riesiger Glasfront zu einem reihenhausmäßigen Mini-Rasenstück, dahinter eine weiße Mauer, die den Blick auf benachbarte Hinterhöfe abschneidet. Irgendwie mehr Schein als Sein.
Von der Wohnküche die Treppe nach oben. Dort ein weiterer Wohnsaal (derzeit genutzt als Kinderzimmer für die beiden Kinder), ein kleines fensterloses Bad, ein Schlafzimmer mit Blick in den Hof. Ein kleiner Schreibtisch neben dem Doppelbett, für mehr ist kein Platz. Nirgendwo in dieser Wohnung können sich die Ehepartner mal zurückziehen zum Schmollen, Arbeiten, Meditieren. Und den Kindern wird ihr gemeinsamer Saal auch wenig nützen, wenn sie erst mal in die Pubertät kommen. Dabei wäre von den Quadratmetern her locker Platz gewesen für zwei Kinderzimmer.
Und: „Ein bisschen teuer ist es schon“, meint N.: deutlich über tausend Euro kalt. „Also, mit allen Kosten zusammen bleiben sie aber unter 1.4.“ Ich: „Wie bezahlen sie denn das, ohne ein festes Gehalt in der Familie?“ – „Ich glaube, die Eltern geben was dazu.“
Also ein reines Status-Objekt das Ganze, das man sich eigentlich nicht leisten kann. Und man schämt sich, wenn man dann doch zurück muss in seine Heimatstadt. Irgendwie erinnert mich das an E. und I. Auch bei diesem Paar ist es der Frau nicht gelungen, Tritt zu fassen im Beruflichen, sie konzentriert sich ersatzweise auf das Kind. Auch sie sind aus der Großstadt weggezogen, weil E. eine schöne Gymnasiallehrerstelle im Dörfchen seiner Herkunft ergattern konnte. Sie kauften sich (mit Hilfe der Ersparnisse von E.s Vater, einem pensionierten Schuldirektor) ein Sechziger-Jahre-Einfamilienhaus mit Satteldach, das insgesamt doch ein wenig piefig wirkt. Aber es gibt ein schönen großen Garten und innen genug Platz: eine Küche und ein großes Doppelzimmer mit Schiebetür unten, drei Zimmer (mit schrägen Wänden) in der oberen Etage. Ausreichend für drei Personen, aber natürlich nirgends großzügig. Also planten sie einen Anbau: Es wurde ein unförmiger Kubus mit zwei Glaswänden, in dem jetzt die schönen Antikmöbel aus ihrer Stadtwohnung stehen und die Bücherregale. Für die alltägliche Benutzung viel zu groß. Gegessen wird in der Küche. Und das, was man wirklich braucht, den Rückzugsort, das hat jeder für sich in seinem Zimmer unterm Dach.
Der Anbau ist ein reines Party- und Besucherzimmer. Na ja, bei meinen Großeltern (das waren Aufsteiger aus dem proletarischen Milieu) gabs das auch, damals um 1930, als die Moderne in die Piefigkeit zurückfiel: Da hieß das „Gute Stube“, war meistens abgeschlossen, nie geheizt und roch komisch. Ich mochte das nie leiden und mag es auch in seinen aktuellen Formen nicht.

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