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Freitag, 2. Mai 2014
Eine Heldin meiner Jugend: Emily Dickinson
damals, 12:25h
Obwohl es in meiner Familie keine Westverwandtschaft gab, tauchten manchmal in meinem Elternhaus Westler auf, Menschen von einem anderen Stern, die sich aufgemacht hatten, dieses unbekannte Territorium hinter dem Eisernen Vorhang zu erkunden.
Das betraf zunächst einmal meine Eltern. Ich war nur der Sohn. Natürlich nahm ich an den Gesprächen teil, ich interessierte mich durchaus auch für Kunst und Politik. Aber die Themen der Elterngeneration waren zweitrangig, solange meine eigenen Verhältnisse nicht geklärt waren. Nur einmal, ich war schon erwachsen, wohnte aber noch bei den Eltern, war dieser Westbesuch auch für mich etwas Besonderes: Eine Frau von Klemperer, US-Bürgerin, sprach in einer Begegnung nebenher mich selbst an, und wir kamen in einen guten, aufbauenden Dialog. Dessen Ergebnis: dass nach einiger Zeit ein Büchlein mit Versen von Emily Dickinson eintraf, die mir sie empfohlen hatte.
Ich habe das schmale Buch sofort in mein Herz geschlossen. Emily Dickinson machte mich vertraut mit einem religiösen Weltverständnis, in dem das Ich als kraftvolles Einzelnes seinen Platz hat im Weltganzen. Nicht wie bei den politischen Diskussionen, die ich kannte, wo es immer um „die da oben“ ging, die alles bestimmen und denen man machtlos ausgeliefert ist. Bei Emily Dickinson konnte das Ich durchaus auch mikroskopisch klein sein, sich nähren von Krümeln, die von Gottes Tisch fallen. Aber manchmal stand es auch als geladene Waffe in der Ecke. Bei ihr lagen die Toten unter den Marmorbögen der Ewigkeit und sprachen. Sie waren tot, keine Handelnden, aber nicht einmal sie waren stumm oder ohnmächtig. Dickinson zeigte mir, dass man nicht zu sich kommt, ohne nach innen zu gehen. Und ich begann, ihre Gedichte – nur für mich – ins Deutsche zu übersetzen.
Daran änderte sich nichts, als zwei Jahre später die DDR und mein bisheriges Leben zuende gingen. Es verschlug mich nach dem Westen, ich vergrub mich in einer Bremer Souterrainwohnung, abonnierte eine links-katholische Zeitung, die ich niemandem aus meinem Umfeld zeigen konnte, und übersetzte weiter Dickinson. Dass ihre Verse in Westdeutschland zum Allgemeingut gehörten und in ordentlichen Übersetzungen vorlagen, ignorierte ich, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben verweigerte ich, sofern sie über den Medienkonsum hinausging. Einmal schrieb ich einen Leserbrief an die taz, weil mich die zögerliche Haltung der Linken im Jugoslawienkrieg nervte. Er wurde veröffentlicht und ich bekam kurz darauf Post von der militärpolitischen Sprecherin der Grünen: ob ich nicht mitarbeiten wolle. Ich erschrak und zog mich wieder weiter zurück.
Inzwischen sind viele Jahre vergangen. Deutschland, das neue Deutschland, das jetzt schon über 20 Jahre das vereinigte ist, hat sich verändert. Der Sozialstaat bröckelt, die Tarifverträge schwinden dahin, die kritischen Fernsehmagazine, die damals den Ton angaben, gibt es fast gar nicht mehr. Die Grünen sind regierungsfähig, d.h. sie befürworten die Installation von Kriegen und Kohlekraftwerken. Allerdings kaufen jetzt auch normale Menschen Bio-Produkte, Türken können Minister oder Spielfilmregisseur werden und Ostdeutsche Bundeskanzler. Außenseiter-Meinungen muss man nicht mehr als Graswurzel-Blättchen vom Straßenverkäufer im Uni-Viertel erstehen – sie sind für jedermann im Internet einsehbar. Und werden auch eingesehen. Das Leben ist unsicherer und unübersichtlicher geworden, aber auch bunter, weniger normiert, und vielleicht fühle ich mich deshalb jetzt im neuen Deutschland zu Hause, gehe einem Beruf nach und habe eine Familie gegründet. An Emily Dickinson denke ich nur noch manchmal. Seit ich mich Mitte der neunziger Jahre wagte, bei Reclam eine zweisprachige Ausgabe ihrer Gedichte zu kaufen, habe ich nichts mehr von ihr übersetzt.
Das betraf zunächst einmal meine Eltern. Ich war nur der Sohn. Natürlich nahm ich an den Gesprächen teil, ich interessierte mich durchaus auch für Kunst und Politik. Aber die Themen der Elterngeneration waren zweitrangig, solange meine eigenen Verhältnisse nicht geklärt waren. Nur einmal, ich war schon erwachsen, wohnte aber noch bei den Eltern, war dieser Westbesuch auch für mich etwas Besonderes: Eine Frau von Klemperer, US-Bürgerin, sprach in einer Begegnung nebenher mich selbst an, und wir kamen in einen guten, aufbauenden Dialog. Dessen Ergebnis: dass nach einiger Zeit ein Büchlein mit Versen von Emily Dickinson eintraf, die mir sie empfohlen hatte.
Ich habe das schmale Buch sofort in mein Herz geschlossen. Emily Dickinson machte mich vertraut mit einem religiösen Weltverständnis, in dem das Ich als kraftvolles Einzelnes seinen Platz hat im Weltganzen. Nicht wie bei den politischen Diskussionen, die ich kannte, wo es immer um „die da oben“ ging, die alles bestimmen und denen man machtlos ausgeliefert ist. Bei Emily Dickinson konnte das Ich durchaus auch mikroskopisch klein sein, sich nähren von Krümeln, die von Gottes Tisch fallen. Aber manchmal stand es auch als geladene Waffe in der Ecke. Bei ihr lagen die Toten unter den Marmorbögen der Ewigkeit und sprachen. Sie waren tot, keine Handelnden, aber nicht einmal sie waren stumm oder ohnmächtig. Dickinson zeigte mir, dass man nicht zu sich kommt, ohne nach innen zu gehen. Und ich begann, ihre Gedichte – nur für mich – ins Deutsche zu übersetzen.
Daran änderte sich nichts, als zwei Jahre später die DDR und mein bisheriges Leben zuende gingen. Es verschlug mich nach dem Westen, ich vergrub mich in einer Bremer Souterrainwohnung, abonnierte eine links-katholische Zeitung, die ich niemandem aus meinem Umfeld zeigen konnte, und übersetzte weiter Dickinson. Dass ihre Verse in Westdeutschland zum Allgemeingut gehörten und in ordentlichen Übersetzungen vorlagen, ignorierte ich, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben verweigerte ich, sofern sie über den Medienkonsum hinausging. Einmal schrieb ich einen Leserbrief an die taz, weil mich die zögerliche Haltung der Linken im Jugoslawienkrieg nervte. Er wurde veröffentlicht und ich bekam kurz darauf Post von der militärpolitischen Sprecherin der Grünen: ob ich nicht mitarbeiten wolle. Ich erschrak und zog mich wieder weiter zurück.
Inzwischen sind viele Jahre vergangen. Deutschland, das neue Deutschland, das jetzt schon über 20 Jahre das vereinigte ist, hat sich verändert. Der Sozialstaat bröckelt, die Tarifverträge schwinden dahin, die kritischen Fernsehmagazine, die damals den Ton angaben, gibt es fast gar nicht mehr. Die Grünen sind regierungsfähig, d.h. sie befürworten die Installation von Kriegen und Kohlekraftwerken. Allerdings kaufen jetzt auch normale Menschen Bio-Produkte, Türken können Minister oder Spielfilmregisseur werden und Ostdeutsche Bundeskanzler. Außenseiter-Meinungen muss man nicht mehr als Graswurzel-Blättchen vom Straßenverkäufer im Uni-Viertel erstehen – sie sind für jedermann im Internet einsehbar. Und werden auch eingesehen. Das Leben ist unsicherer und unübersichtlicher geworden, aber auch bunter, weniger normiert, und vielleicht fühle ich mich deshalb jetzt im neuen Deutschland zu Hause, gehe einem Beruf nach und habe eine Familie gegründet. An Emily Dickinson denke ich nur noch manchmal. Seit ich mich Mitte der neunziger Jahre wagte, bei Reclam eine zweisprachige Ausgabe ihrer Gedichte zu kaufen, habe ich nichts mehr von ihr übersetzt.
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