Dienstag, 11. Februar 2014
Einfallslos
Zum ersten Mal in der Geschichte dieses Landes war ein Untersuchungsausschuss zu Geheimdienstfragen tatsächlich nicht ganz ergebnislos. Und kaum ein Jahr später gibt es eine Hausdurchsuchung bei dem Ausschussvorsitzenden von damals, und zwar wegen – des Verdachts auf Besitz von Kinderpornographie. Wie langweilig! Habt ihr es in vielen Monaten nicht mal geschafft, euch eine glaubhafte Intrige auszudenken?

(... ja, ich weiß, Kinderpornographie gibt es wirklich und sie ist widerlich. Und die Wahrscheinlichkeit, dass Edathy damit etwas zu tun hat, ist größer als Null. Sie ist vermutlich sogar größer als die Wahrscheinlichkeit der allgemein geglaubten Tatsache, dass Andreas Temme von dem Mord nichts mitbekommen hat, der zwei Meter neben ihm passierte ... was soll man denn von all den abstrusen Nachrichten halten? Kinderpornographie? Klingt für mich irgendwie nach BILD-Zeitungs-Ente.)

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Freitag, 17. Januar 2014
Politik und Depression
arboretum bat mich neulich, mal über Politik in meiner Kindheit zu erzählen. Hässliches Kapitel. Aber sei’s drum. Um das Ganze in den passenden historischen Rahmen zu heben, beginne ich mit einem Rückblick auf das Jahr 33 und ich hoffe, hier wird mir keiner ein gaucksches Gleichsetzen deutscher Diktaturen vorwerfen. So ist es nicht gemeint: nicht politisch – eher antipolitisch.
Als das Jahr 1933 kam, waren meine Großeltern nicht mehr ganz jung. Mein Großvater, Sozialdemokrat und Finanzbeamter, kroch zu Kreuze, um den wirtschaftlichen Ruin der Familie zu verhindern. (Sein Bruder, der sich anders entschied, endete, jämmerlich – und nicht etwa märtyrerhaft.) Meine Großeltern jedenfalls (auch meine Großmutter war langjähriges SPD-Mitglied) zogen sich ganz in die private Resignation zurück und bekamen noch einmal ein Kind, meinen Vater. Unter diesem depressiven Vorzeichen wuchs auch ich auf, eine Generation später. Zu meinen ersten Erinnerungen gehört, dass ich die Panzer gesehen habe, die 1968 durch meine Heimatstadt rollten, auf der Rückkehr von einer äußerst ruhmlosen Mission. Es waren riesige, laute, beeindruckend bedrohliche Monster. Meine Mutter erzählt, dass ein fremder Mann mir Fähnchen geschenkt, ich sie begeistert geschwenkt und sie sie mir wütend aus der Hand gerissen habe. Daran kann ich nicht erinnern, an den Zwiespalt zwischen Sprachlosigkeit und Wut, den meine Mutter mit sich herumschleppt, schon. Ich habe auch erst später erfahren, dass unser Umzug nach Potsdam wenige Monate später auch mit diesem Ereignis zusammenhing: Mein Vater suchte sich eine neue Arbeit, die er für weniger politisch hielt, wo man ihm auch die übliche Unterwerfungsgeste ersparte, eine Resolution zur Rechtfertigung des Putsches in Prag zu unterschreiben.
Das Ende des Prager Frühlings bedeutete für meine Eltern den endgültigen Abschied von ihren kommunistischen Jugendidealen. Ähnlich wie meine Großmutter sah sich meine Mutter, obwohl sie sehr politisch dachte, auf die private Sphäre verwiesen. Dort, in den eigenen vier Wänden, wurde der Marxismus weiter zelebriert. Im Schrank standen die gesammelten Werke von Bertolt Brecht und alle Platten von Ernst Busch. Sie wurden auch gehört. Mit der Realität, in die wir Kinder jeden Morgen zur Schule gingen, hatte das nichts zu tun. Ich erinnere mich zum Beispiel an das sagenumwobene Buch „Die Alternative“, das als heimlicher Kopienstapel in unser Haus kam, die ersten Fotokopien, die ich in meinem Leben zu Gesicht bekam. Ich ging an das Versteck und versuchte zu lesen, verstand aber nur Bahnhof. Es hatte nichts mit mir zu tun. Trotzdem kritzelte ich „Freiheit für Rudolf Bahro!“ in mein Mathebuch und hatte furchtbare Angst, irgendjemand könnte das entdecken.
Als zum Beginn der achten Klasse, wenige Wochen vor dem kollektiven Eintritt in die FDJ, Fahnenappell angesagt war, nutzten viele Mitschüler die kleine formale Lücke, um nicht mehr mit Pioniertuch (und noch nicht im FDJ-Hemd) zu erscheinen, sondern einfach in Zivil. Ich fand das unehrlich und sagte das auch in der Versammlung. Plötzlich hatte ich alle gegen mich, auch die Lehrer. Und auch zu Hause meine Mutter meinte, dass man sowas lieber nicht öffentlich äußern sollte. Damit war klar: Den kämpferischen Reden zu Hause hatte kein öffentliches Handeln zu entsprechen. Mir war das recht, mir lag das Kämpferische eh nicht.
Also weiter heimlich Kampflieder und freche Satiren von Biermann zu Hause - und Schweigen, sobald man rausging. Einmal, ein paar Jahre später, wurden meine Schwester und ich von meinem Freund S. dabei ertappt. Als es klingelte, schoben wir das Plattencover von „aah ja!“ schnell unter den Fernseher, die Anlage vergaßen wir auszuschalten. „Was hört ihr denn da?“ fragte S. arglos, erspähte die Hülle, zog sie vor und erblasste. Großes Drama. Die, vor denen wir die Platten eigentlich versteckten, wussten dagegen Bescheid. Die Stasi hat alles per Wanze abgehört und den Inhalt mehrerer Biermann-Platten getreulich transskribiert und abgetippt. S. dagegen durfte, als er dicht hielt, nun auch den „ersten Kreis der Hölle“ von Solschenizyn lesen. Allerdings: Er dürfe nicht wissen, dass wir ihn besitzen, meinten die Eltern: Sag ihm, wir haben das geborgt gekriegt, und er kann es für eine Woche haben.“ Also lasen S., seine Eltern, seine Schwester und sein Schwager den 1000-Seiten-Roman umschichtig in sieben Tagen.
Aber das sind nur so die Anekdoten. Tatsächlich hielt ich mich weiter für einen Sozialisten und Verteidiger der DDR. Als in der 11. Klasse angeordnet wurde, die Jungen hätten in GST-Uniform (GST – „Gesellschaft für Sport und Technik“, Schieß- und Kampfsport-Verein, dessen Uniformen für die vormilitärische Ausbildung an der Schule genutzt wurden) und FDJ-Hemd zur Demonstration am Ersten Mai zu erscheinen, zwängte ich mein FDJ-Hemd über die Uniformjacke und erklärte meinem Direktor, ich sei in erster Linie FDJler. Allerdings interessierten solche Spitzfindigkeiten in der Auslegung des realen Sozialismus weder ihn noch sonst jemanden.
Und sie taten ja auch nichts zur Sache. Tatsächlich waren die Fronten klar. Ich begriff es, glaube ich, in diesem Jahr: als uns in der Schule die vormilitärische Ausbildung aufgedrückt wurde, als wir die natürlich veralberten, ich daraufhin vom Russischlehrer und „Kommandeur“ als Rädelsführer bezeichnet wurde und mein Vater in die Schule rannte, um mich rauszuhauen ... Ich beschloss darauf in meinem Frust, mit einem Freund im Sommer zu einer evangelischen Rüstzeit zu fahren. Mein Vater verbot es mir mit der Begründung, ich müsse doch die innenpolitisch angespannte Situation bedenken und im Grunde stände ich doch eher auf der Seite des Staates als der der Kirche. Was mir angesichts meines Russischlehrers nicht gerade einleuchtete. Gehorcht habe ich ihm trotzdem. Und dabei spielt es eigentlich keine Rolle, ob er diese idiotische Begründung wirklich so meinte oder, wie mein Freund S. mutmaßte, einfach im Jahr der Bewerbung zum Studium den dicken Eintrag in der Stasiakte fürchtete, wenn ich als Nicht-Christ und Sohn eines SED-Mitglieds mit der Kirche urlaubte.
Fazit: Bleibt mir mit Politik vom Halse! Ja, klar: politisch schwätzen, die Dinge ein bisschen verstehen – das macht Spaß. Aber verantwortlich handeln, das kann man nur für sich, seine Freunde, seine Familie, seine Moral – für den Bereich eben, auf den man Einfluss hat.

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Samstag, 11. Januar 2014
Meine schöne Heimatstadt, ganz aktuell
Wenn wir müde und kaputt sind – und das sind wir dieser Tage oft, da sich an den Weihnachtstress gleich eine Erkältung anschloss, die wir alle kriegten – sagt beim Abendbrot meistens einer: „Lass uns doch nachher >Hamburgjournal< gucken!“ Und dann hängt die Familie noch ein paar Minuten banal und spießig vor der Glotze.
Aber jetzt wird uns auch noch dieses Vergnügen missgönnt: Die ganzen letzten Tage sah man da schon Polizistenhorden in voller Montur über die Reeperbahn rennen und harmlose Passanten belästigen. Auch gestern wieder Bilder von diesem blindwütigen Aktionismus, der geradezu das Gegenteil von souveräner Polizeiarbeit ist, wie sie jetzt vielleicht besonders sinnvoll wäre. Doch damit nicht genug: Wir erfahren weiter, dass der Innensenator, der für dieses Chaos zuständig ist, gleich auch noch den Justizsenator-Posten übernimmt. Denn Gewaltenteilung braucht man unter solchen Verhältnissen nicht mehr. (Und damit auch die „soft skills“ abgedeckt sind und sich in Berlin grad neue Pfründe auftun, lanciert der Typ auch noch seine Frau auf den Posten der Integrationsbeauftragten.) Währenddessen, so berichtet das >Hamburgjournal< weiter, versucht in Eppendorf ein Investor ein Mietshaus abzureißen, damit der für die künftigen Eigentumswohnungen die begehrte Wohnungsbauprämie bekommt. Die Behörde findet das völlig in Ordnung.
Weder sozial noch demokratisch, all das. Eben typisch SPD.

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Montag, 4. November 2013
Polemik des Tages: "spielzeugfrei"
Vor ein paar Tagen erheiterte mich wieder einmal eine Laternenpfahlwerbung: Eine „Kinderstube Altona“ empfiehlt sich als „spielzeugfreie“ KITA.
Da ich das Handy fürs Fotografieren nicht dabei hatte, googelte ich nach (natürlich nicht mit Google!), um Euch den Schwachsinn zu verlinken. Zu meinem Schrecken musste ich feststellen, dass das kein Altonaer Ausrutscher ist, sondern offenbar eine richtige pädagogische Mode. Es soll schon eine ganze Reihe KITAs geben, in denen es tatsächlich nur selbstgebasteltes Spielzeug geben darf. Und das Ganze soll laut pädagogischem Konzept der „Suchtprävention“ dienen.
Also, wenn irgendetwas die Sucht nach Kommerzspielzeug anfeuert, dann doch, dass man ein dreijähriges Kind zwingt, sich nur mit den wackligen Elaboraten zu beschäftigen, die es selbst schon herstellen kann. Welches Kind sägt sich seine Bauklötze selber? Ich meine: Nichts gegen Basteln. Und vor allem nichts gegen den Versuch, die Flut überflüssiger Spielwaren von den eigenen Kindern fernzuhalten. (Auch im Kindergarten meines Sohnes waren natürlich manche Spielzeugarten tabu.) Aber zwischen zu viel Spielzeug und gar kein Spielzeug, da muss es doch irgendwo noch einen Weg geben, wenn man irgendeine Zuneigung zu Kindern empfindet, oder? Auch Kindesmissbrauch aus pädagogischer Überzeugung ist Kindesmissbrauch.

... na ja, in einer Welt, die seifenfreie Seifen, politikfreie Politik („Pragmatismus“), alkoholfreies Bier, zuckerfreie Cola und laktosefreie Butter liebt, warum nicht? Wer sich selbst so sehr hasst, der quält auch seine Kinder.

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Montag, 28. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 8
Mein Weg in die Wirklichkeit begann - ganz klassisch - mit dem Verlassen der Universität, mit dem Weggang von Bremen. Ich begann mein Referendariat in einer schnuckelig restaurierten, winzigen Fachwerkstadt im Niedersächsischen. Mein lang gehegter Plan vom Lehrerdasein - hier sollte er Wirklichkeit werden, nachdem ja Rostock und überhaupt der Osten dafür nicht mehr in Frage kamen. Angesichts der bodenständigen Mitreferendare erwies ich mich wieder als der Exot - und als ein wenig verwahrlost, auch das war unverkennbar. Zu den meisten von ihnen fand ich keinen Zugang und zu den Schülern auch nicht, wenn man von einigen Außenseitern (Kleinstadtpunks, Migranten, psychisch Verquere) absieht, zu den Fachleitern erst recht nicht. Meine Unterrichtsversuche gerieten chaotisch.
Zur ersten Lehrprobe, dem Abhalten eines Unterrichts vor Noten gebenden Vertretern des Staatlichen Studienseminars für Gymnasien, geriet ich so in Panik, dass ich mir vom Arzt vorher eine Beruhigungsspritze geben ließ. Gott sei Dank war er dazu ohne weitere Nachfragen bereit, bemerkte nur, auf Dauer sollte ich eine Psychotherapie ins Auge fassen. Dieser Ratschlag war einer der wenigen sinnvollen, die ich in diesem Referendariat erhielt.
Ich rief meine Exfreundin an, wegen der ich in den Westen gekommen war und die sich vor Jahren von mir getrennt hatte. Sie studierte inzwischen Psychologie. Wir trafen uns in Potsdam, unser alten gemeinsamen Heimat, und wanderten gemeinsam durch den Wildpark bis nach Werder. Auch sie empfahl mir, mit einer Psychotherapie zu beginnen, sagte mir auch, wie das am besten zu bewerkstelligen sei. Ihrem Rat bin ich gefolgt. Es wurde ein steiniger Weg, durch finanzielle und emotionale Niederungen hindurch, aber er brachte mich wieder an die Oberfläche bürgerlichen Daseins, irgendwo in der unteren Mittelschicht, wo ich heut noch lebe.

ENDE

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Sonntag, 27. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 7
Also wieder nach Bremen. Natürlich per Anhalter, wie immer. Gleich hinter dem Schulamt gab es einen Kreisverkehr, durch den mussten alle Autofahrer, die die von Rostock aus nach Westen wollten. Dort kam man immer gut weg.
In Wismar wurde es schon langsam dunkel, als endlich ein Kleinlaster stoppte. Mit dem Fahrer kam ich schnell ins Gespräch: ein Obsthändler von der Insel Rügen auf dem Weg zum Großmarkt in Hamburg. Er war der Sohn eines Hamburger Einzelhändlerpaars, seine Frau kam aus dem Osten. Ihre Familie war ein Opfer der Aktion „Rose“, der großen Umsiedlungs- und Enteignungsaktion grenznaher Gebiete in der DDR. Sie hatte dabei ihre Existenzgrundlage, einen Obst- und Gemüseladen auf Rügen, verloren und war nach Hamburg übergesiedelt. Jetzt bekamen sie den Besitz wieder und er übernahm mit seiner Frau den Laden. Während sie an der Theke stand, fuhr er jede Nacht zum Hamburger Großmarkt, um Ware zu holen. Die Stasi-Akte hatten sie im Zuge der Rückübertragungsverhandlungen 1990 einmal kurz einsehen können, als der Beamte den Raum verließ. Jetzt, zwei Jahre später, bekamen sie sie in offizieller BStU-Kopie - und um ein Drittel ausgedünnt. Es fehlten alle Blätter, auf denen Namen verzeichnet waren, die für das Nachwende-Rügen noch eine Rolle spielten. Er schimpfte wie ein Rohrspatz auf die „roten Socken“ und ich musste ihm Recht geben. Uneins waren wir nur in der Frage, ob es moralisch gerechtfertigt sei, Sozialhilfe zu beziehen und gar nicht arbeiten zu wollen. Für ihn war soziale Fürsorge nur als Wohltat für menschliches Elend denkbar; arbeiten zu gehen, so wie er sich in die Arbeit stürzte, sich die Nacht um die Ohren schlug, empfand er als selbstverständlich, als Pflicht.
Ein anderer solcher Pflichtmensch nahm mich von Hamburg nach Bremen mit, ich glaube, es war eine andere Tramptour, aber auch schon gegen Abend: ein gepflegter Mann mittleren Alters, im Anzug und in Begleitung einer entsprechend gekleideten Ehefrau. Worüber wir redeten, habe ich vergessen, aber ich erinnere mich noch, wie es sich anfühlte, mit eine Generation älteren Leuten zu reden, die einem offen begegnen, wirklich etwas wissen wollen, dabei selbst kenntnisreich sind, die Dinge einordnen können, aus einem sicheren Standpunkt heraus, der nicht meiner war, aber den ich respektieren konnte. Beim Aussteigen luden sie mich ein, sie doch einmal zu besuchen. Der Mann übergab mir seine Visitenkarte und ich erschrak, weil darauf stand „Geschäftsführer der CDU Bremen“. Das waren doch die Bösen, wie man sie aus dem Fernsehen kannte. Ich verkroch mich in meinen Keller. Die Karte warf ich weg.
Da schien mir Michael doch von anderem Schlag, der Rock-Gitarrist mit der Elvis-Tolle. Den mochte ich und er mich auch, aber irgendwie – es fand sich keine gemeinsame Basis. Er wollte mich sogar mit Frauke verkuppeln, der besten Freundin seiner Ex-Freundin, einer sympathischen Frau, umtriebig, Asta-Aktivistin, aber nicht schön, ganz und gar nicht, und als sie mir noch erklären wollte, dass „Hoch – die – internationale – Solidarität!“ ein super Slogan wäre und ich nur mal meine individuellen DDR-Erfahrungen hinter mir lassen müsste, nahm ich diesen eher kleinen Dissens zum Anlass, die Bekanntschaft nicht zu vertiefen. Auf der Oberflächenebene war es natürlich gut. Wir fuhren zu viert – Michael, seine Ex Maria, Frauke und ich – nach Kuhmühlen zu der berühmten Dorfdisko und tanzten die Nacht durch oder begeistern uns für Monstermagnet, als sie in meiner Lieblingsdisko in Hemelingen auftraten.
Überhaupt nahm mein Bekanntenkreis immer weiter zu, während die Kontakte, die mir wirklich etwas bedeuteten, weniger und weniger wurden. Sören verschwand für einige Wochen in der Psychiatrie, danach wurde es irgendwie nicht mehr so dicht zwischen uns. Hardi kaufte für einen Spottpreis von einigen tausend DM (von denen ich ihm 2 pumpen musste) das Haus seiner Ex-Vermieterin, die ins Altersheim gekommen war, und ging zurück in die alte Heimat. Anja, meine heimlich verehrte Mitbewohnerin, wurde schwanger von einem Süditaliener, zog aus und heiratete. An meinem dreißigsten Geburtstag sah ich mich umgeben von jüngeren fußballbegeisterten Studenten, mit denen mich hauptsächlich die Freude am Bier verband. Einmal geriet ich auch in ein Frauenbett, in das einer Jugendfreundin aus Berlin, die sich zu einer großbusig blonden, aktiven Frau ausgewachsen hatte. Das kam überraschend, es war irgendwie nicht schlecht. Ich sah mir selbst zu, es war wie in einem der „Sexy Clips“, die ich in Samstagnächten zu konsumieren pflegte. Wir vollführten halt Übungen, die uns beiden gut taten und die möglich waren, weil wir von früher her, aus Ostzeiten, noch ein Vertrauensverhältnis zueinander hatten, ohne uns jetzt besonders nahe zu sein.
Als Maria, die wildlockige Schönheit und große Liebe von Michael, auf mich zukam und sich mit mir verabreden wollte, war es schon zu spät. Es gab zwei Abende beim Bier, an denen wir uns nahe kamen, ich sie, ihr großes Herz zu gut erkannte: Zuneigung und Erotik, das ging für mich gar nicht mehr zusammen. Als es bei der drtitten Verbredung auf Sex hinauszulaufen schien, jedenfalls war ihr WG-Mitbewohner nicht da und sie verkündete, heute nicht mehr ausgehen zu wollen – ergriff ich panisch die Flucht. Ab da zeigte ich für niemanden mehr Gefühle. Ich schrieb an meiner Examensarbeit, endlich eine losgelöste, glückliche Zeit. Ich schlief jeden Tag bis zehn, ging dann beim Frühstück meine Notizen durch, danach einkaufen und spazieren, ab sechs abends saß ich am Schreibtisch und schrieb bis zwei Uhr nachts. Wenigstens das mit dem Examen, das klappte gut.

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Samstag, 26. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 6
Ich steckte meine Energie in ein neues Projekt: das zusätzliche Schulpraktikum daheim im Osten. Dumpf fühlte ich die Verpflichtung, dort wieder hinzugehen. Ich musste prüfen, wie realistisch das war.
Ich mietete die schön eingerichtete, aber bautechnisch ärmliche Wohnung (Kaltwasser, dünne Wände, Klo im Keller) einer zeitweilig abwesenden Medizinstudentin in Rostock und verbrachte einige Wochen am dort neu eröffneten Gymnasium.
Es wurden meine ersten wirklichen Unterrichtserfahrungen, ohne Konzept, ohne Anleitung. Lehrer und Schüler hielten mich für einen Wessi. Ich fühlte mich respektiert – und lernte mehr, als ich zugab.
Meine Betreuungslehrerin – Deutsch/Geschichte, Mitte fünfzig – unterrichtete in einem altmodischen, mir sehr vertrauten Stil: leidenschaftlich, genau in „Muttersprache“, brav-konservativ in Literatur, was sie als reine Vermittlung eines traditionellen Kulturerbes verstand. Die sechzehnjährigen Schüler lasen den Goethe-Schiller-Briefwechsel, ohne ein Wort zu verstehen. Meine ungelenkigen, flapsigen Lehrversuche zu „Kabale und Liebe“ standen im Kontrast dazu, aber trotzdem passte es, irgendwie, fand ich.
Auch die Wohngegend sagte mir zu: ein paar kleinstädtisch wirkende Vorstadtstraßen mit zweistöckigen Gründerzeithäusern und Kopfsteinpflaster, von der touristisch belebten Altstadt getrennt nur durch den Stadtpark. Bürgerliches Publikum gab es hier nicht, Studenten und Proleten lebten nebeneinander her. Die ganze Zeit schien die Sonne, und zwei Tage lang blieben in dem Haus gegenüber die Fenster ausgehängt, weil die Rahmen gestrichen wurden, auf Böcken auf dem Bürgersteig, bei Bier und lauter Musik.
Einmal bog ich von der Straßenbahnhaltestelle in meine Straße ein, vor mir wankte ein alkoholisiertes Proletenpärchen in meinem Alter. An einer Straßenkreuzung wandte sich der Mann abrupt ab und betrat die Eckkneipe. Sie wandte sich daraufhin ratsuchend um – ich erkannte erschreckt, dass sie hochschwanger war – und sprach mich an: „Können Sie mir helfen?“, fragte sie. „Jetzt ist er weg und wir wollten doch die Waschmaschine holen, wo jetzt bald das Kleine kommt.“ Also sprang ich ein und half ihr, aus einem leer stehenden Nachbarhaus eine WM66 zu bergen, eine einfache Wellenradwaschmaschine aus den sechziger Jahren.
Von Rostock selbst nahm ich sonst wenig wahr, einmal besuchte ich eine Disco, wo ich einen jungen Rechten traf, der sich mir stolz als „Ortsvorsitzender des Vertriebenenverbandes“ vorstellte, ohne über die Vertreibung (die seine Oma durchlebt hatte) mehr als oberflächlich-ideologisches Wissen zu haben. Ein kleiner Skinhead assistierte ihm wortlos. Wir stritten uns mehrere Biere lang und trennten uns dann kopfschüttelnd.
In Warnemünde war ich nur einmal, schon allein die S-Bahn-Fahrt durch die Neubauwüsten von Lichten- und Evershagen schreckte mich ab, erst recht die Erinnerung an Johanna. Lieber streifte ich am Binnenhafen entlang oder blieb überhaupt zu Hause. Als in Lichtenhagen das Ausländerheim brannte, war ich grade über das Wochenende bei den Eltern, ich sah es im Fernsehen. Zurück in Rostock verspürte ich wenige Lust, mir den Ort des Geschehens anzusehen. Die Stadt war plötzlich voller Polizei, manchmal kreisten Hubschrauber am Himmel. Einmal beobachtete ich, wie eine Kolonne von Mannschaftswagen am Straßenrand anhielt, weil im ersten Wagen noch Stadtpläne studiert werden mussten.
In der Schule wurde das Thema in Sozialkunde besprochen. In alter Stabü-Manier schob die Lehrerin alles auf die gesellschaftlichen Umstände, die Schüler sahen die Schuld eher bei Faschos und Ausländern, die sie als Eindringlinge in ihre Heimat erlebten. Ich, der ja auch ein Eindringling war, wollte nur noch weg. Das mit der Sehnsucht nach dem Osten hatte sich erstmal erledigt.

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Freitag, 25. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 5
Meine Studieninteressen entwickelten sich entsprechend. Die Faktenhuberei der Geschichtswissenschaft stieß mich immer mehr ab, ich machte dort nur das Nötigste. Stattdessen belegte ich Philosophieseminare. In Germanistik entdeckte ich Schiller. „Schiller?“, fragte eine Freundin meiner Mutter. „Den mag ich nicht. Der ist doch so künstlich und so ... unerotisch.“ Ihre Aussage erboste mich. Für mich war Schiller der Rebell, der Zerrissene, der Leidenschaftliche, auch in der Liebe. Selbstverständlich künstlich: Schiller, der Performer.
Im Schiller-Projekt tummelten sich Theaterbegeisterte, mir sehr fremde, körperbetonte und überwiegend weibliche Menschen. Jan und ich staunten. Und als wir dann auch noch für die kleine Gruppe ausgelost, die im Frühling mit zu den Schillertagen nach Mannheim fahren durfte! Dort sollten tagsüber Seminare stattfinden, abends gastierten diverse Schiller-Inszenierungen. Danach: Biertrinken und Diskussion. Im Seminar saß ich allein, aber zum Mittagessen sah ich die Bremer wieder, wir trafen uns immer in einer Pizzeria, wo man am Straßenrand in der Sonne sitzen konnte. Es war warm und sonnig und ich in alle Frauen gleichzeitig verliebt. Aber wem von ihnen sollte ich mich nähern? Der kühlen, blonden Cornelia mit den großen grauen Augen und der verklemmten Herzlichkeit, die sich einmal sogar mir zuliebe ihre Haare zum Pferdeschwanz band, wie ich es liebte? Oder der schicken Ada, die nebenher beim Fernsehen arbeitete und die immer perfekt gestylt im Hosenanzug auftrat? Der niedlichen Antje? Oder der katzenhaften Mia, die schon ein paar Jahre älter war und nie etwas von einem Freund erwähnte? Mit Jan konnte ich über solche Probleme nicht sprechen, der verschwand immer gleich nach dem Seminar, tauchte abends zu den Stücken wieder auf und ging anschließend gleich ins Hotel. Wenn ich abends angetrunken ankam, wachte er immer auf und wollte von mir Berichte über die Abendgespräche, die ich natürlich gern gab. Dann fühlte ich mich wichtig und cool und nicht mehr so verklemmt und ängstlich wie noch kurz zuvor in der Runde der Frauen ...
Und dennoch: die Frauen gaben mir Mut. Als wir wieder in Bremen waren und der Studienalltag weiterging, traf ich einmal Cornelia in der Cafeteria. Wir saßen beide nebeneinander auf einem Treppenabsatz, einmal krabbelte sie mir wie nebenbei das Knie. Das war genug, und es machte mich glücklich.

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Donnerstag, 24. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 4
Dann wurde es Herbst in meiner neuen Heimat. Eines Tages fiel mir ein Graffitispruch an einer Häuserwand im Ostertorviertel auf: "Mösenboykotz!" Der Aufruf fand meine spontane Zustimmung, allerdings verstand ich ihn anders herum: Ich fand mich bestätigt in meinem Vorsatz, Frauen künftig zu meiden, weibliche Annäherungsversuche von vornherein zu boykottieren. An die Stelle der Frauen traten Alkohol und laute Musik. Entsprechende Lokalitäten gab es genug. Meistens zog ich mit meinem Kommilitonen Sören durch die Kneipen und Discos im besagten, angesagten Ostertorviertel. Eintrittsgelder und Bier waren billig, die Fußwege zwischen den Lokalen kurz. Wenn das Geld knapp war, reichten 30 DM für eine halbe Nacht, und wenn der Kick nicht ausreichte, fuhr ich mit dem Rad in den Arbeitervorort Hemelingen, wo die Prolls in einem alten Tanzlokal mit Galerie zu Gitarrenrock abhotteten. Verbliebene Reste von Sexualität machte ich nebenher alleine in meinem Souterrainzimmer ab. "Sperma ist ekelhaft" hieß das zugehörige Lied von Lisa Politt, das ich sehr liebte und oft hörte.
Eines Tages klingelte es und Hardi stand vor der Tür. Mein alter Kumpel aus Armeezeiten, ein bärenhafter, linkischer Typ mit Vollbart, Landarbeiter ohne Familie, ein humorvoller, halb asozialer Typ. Die LPG in seinem Heimatort im Harz hatte gleich nach der Wende dichtgemacht. "Eines Tages stand ein Viehtransporter auf dem Hof und holte die Kühe ab ..." Hardi verdingte sich nun in einem Futtermittelbetrieb vor den Toren Bremens, fungierte als einziger regulärer Bewohner des zugehörigen Arbeiterwohnheims (die anderen Zimmer wurden an Sozialhilfeempfänger, vornämlich Ausländer, vermietet). Mein jährlicher Brief an ihn war ihn vom Harz aus nachgeschickt worden. Wir trafen uns dann öfter, meistens zum Saufen, manchmal auch zum sonntäglichen Besuch auf dem Flohmarkt. Hardi war skurril. Es roch nicht besonders angenehm in seinem total verdreckten Zimmerchen, zumal dort auch sein Schäferhund Harras wohnte, aber es war nett und witzig - und vor allem weit, weit weg vom normalen Leben, dem Leben der Johannas und Jans.

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Donnerstag, 24. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 3
In G., der Universitätsstadt, war der Umbruch dagegen schon deutlich spürbar. Knut P., Initiator des Friedenskreises und zentrale Gestalt der lokalen Opposition, hatte die Stadt mit unbekanntem Ziel verlassen, jetzt wurden Gerüchte über seine Stasi-Zuarbeit laut. Siegfried Merz, einstiger Bausoldat, der sein Theologiestudium nur über den Umweg einer Dachdeckerausbildung erlangt hatte, predigte zum ersten Mal in der Marienkirche. Thomas und Karin hatten geheiratet und erwarteten ein Kind. Thomas' kleine Schwester war inzwischen auch Studentin. Ich traf sie in der Wohnung ihres Bruders, einer engen, hellen Neubauwohnung, nicht weit vom Markt. Sie sah schön aus und sagte nichts. Karin schämte sich ein bisschen für die Wohnung. „Ja, ich weiß …“, sagte sie. Natürlich hatten wir die Platenbauten gehasst, die in der Spät-DDR nach und nach die verwahrlosten Altstadthäuser verdrängten. „Aber heißes Wasser aus der Wand und die Heizung musst du nur aufdrehen, das ist schon was, wenn das Baby kommt.“
Partys fanden natürlich eher in einer der Schwarz-Wohnungen statt, die inzwischen legalisiert worden waren, da gab es große Zimmer, Höfe, Gärten. An eine davon erinnere ich mich. Mit Johanna, das war Thomas' Schwester, hatte ich am Mittag bei einem Cafébesuch spontan verabredet, demnächst ein paar Tage nach Paris zu fahren. Das hatte mich aufgekratzt, regelrecht verliebt gemacht, und jetzt sollte ich hier allen, also auch ihrem Freund, begegnen. Ich meisterte die Situation gut, obwohl die Nachricht die Runde machte und für vielerlei Witze sorgte. Zur Erheiterung sorgte auch das reichlich vorhandene Bockbier. Die ums Überleben kämpfende G.er Brauerei hatte es auf 50 (Ost-)Pfennig pro halben Liter gesetzt und mehre Gäste je einen Kasten davon mitgebracht. Thomas betrank sich fürchterlich. Seine hochschwangere Frau musste ihn am Ende beim Nachhauseweg stützen und war sauer. Kathrin verkündete ihren Entschluss, das Studium abzubrechen und für ein Jahr in die Toscana zu gehen.
Und ich fuhr mit Johanna nach Paris. „Mal sehen, was passiert.“, erklärte sie die Situation unserer Mitfahrgelegenheit, einem schmalen Endzwanziger mit klapprigen Auto, der uns bis Paris mitnahm und dann weiter nach Südfrankreich wollte. Leider passierte gar nichts, zwischen uns jedenfalls nicht. Zwischen der zurückhaltend runden Theologentochter und meiner verklemmten Persönlichkeit war einfach kein Weg. Wir trotteten gemeinsam die Sehenswürdigkeiten der französischen Hauptstadt ab, und ein bisschen Schwung in die Sache kam erst, als ich „Jumièges“ auf ein Trampschild schrieb, um einer meiner Lieblingskirchen aus den Mittelaltervorlesungen einen Besuch abzustatten. Denn das Schild mit dem provinziellen Ziel stachelte die Heimatliebe eines jungen Nordfranzosen an, der an uns vorbeifuhr. Er stoppte und lud uns ein. Obwohl die Verständigung zwischen uns schwierig war – er konnte so viel Englisch wie ich Französisch – nur ein paar Brocken – wurde aus der kleinen Trampertour ein ganzer Tag. Er zeigte uns nicht nur Jumièges, sondern auch das Nachbarkloster, das noch in Betrieb war dann den Hafen von Le Havre, schleppte uns sogar zu seinen Schwiegereltern nach Etretat und zum Abschied machten wir ein Picknick am Strand.
Als wir von Remis fort waren, war sofort die Verlegenheit wieder da, es war nur noch furchtbar: die Ankunft in Deutschland, in Köln, ein paar Stunden Wartezeit auf dem nächtlichen Bahnhof, ehe unser Regionalzug fuhr, der mich Gott sei Dank schon in Nordwestdeutschland zu meinem Ziel brachte, während Johanna bis G. weiterfuhr. Ich meine, so richtig kapiert habe ich das da noch nicht, ich bin ihr sogar nachgefahren, einen Monat später, nach Warnemünde, wo sie ein Praktikum bei der Gemeinde machte. Natürlich wusste ich, dass das keinen Sinn hat – ich verkaufte die Fahrt vor mir selber als Fahrt zum Schulamt in Rostock, um auch meinerseits ein Schulpraktikum im Osten vorzubereiten. Den Schulrat traf ich an, Johanna zum Glück nicht. Ich erinnere mich, wie ich durch die idyllischen Straßen von Warnemünde geirrt bin und einsam am Strand gestanden habe – und wie ich zurücktrampte mit einem Medizinstudenten mit Liebeskummer: „Du kannst es nicht ändern.“, erklärte er mir, „wenn du das mit den Beziehungen nicht hinkriegst. Ich war ein paar Jahre in Kanada. Es war das Gleiche. Du schleppst es einfach mit.“

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