Sonntag, 7. Juni 2015
Sind Verschwörungstheorien allergische Reaktionen?
Ich hege ja geheime Sympathie für Verschwörungstheorien und bin im Grund eher geneigt, sie zu verteidigen, ich sage zum Beispiel: Verschwörungstheorien entstehen einfach aus Mangel an Transparenz. Wo der durchschnittlich Interessierte keine Chance mehr hat, die Dinge zu verstehen, da wird er anfangen, sich aus den ihm vorliegenden lückenhaften Informationen eine Erklärung zusammenzubasteln. Und daher sind Politiker und Journalisten die letzten, die sich aufregen dürften über die wilden Thesen der politischen Laien. Denn sie selber sind es ja, die unzureichend informiert, die zu wenig recherchiert haben und die nun Mitschuld daran tragen, dass die Unkundigen unkundig bleiben und sich stümperhaftes Zeug zusammenreimen müssen.
Das ist natürlich nur eine Seite der Medaille. Denn es gibt natürlich Theorien, die nicht in erster Linie entstehen, weil der Betreffende es nicht wissen kann, sondern weil er es nicht wissen will. Da meint zum Beispiel einer auf blogger.de, in Deutschland ständen die Grünen kurz vor der Machtübernahme und der Installation eines totalitären Reiches, ein anderer verlinkt zu einem Korea-Experten, der uns erklärt, dass Nordkorea eigentlich ein ganz normales Land sei, wenn man es nur nicht zu sehr mit europäischen Augen betrachte. Auch von den „Reichsbürgern“ bleibt Bloggersdorf nicht verschont, den Leuten, die glauben, dass die Bundesrepublik gar nicht existiert und dass sich Deutschland immer noch in einem Kriegszustand befinde, der ungefähr dem Zustand in ihrer eigenen Seele entspricht. Und neulich erklärte sogar jemand allen Ernstes, sein ganz persönlicher Fremdenhass erkläre sich aus einer „a priori“ im Menschen angelegten Abneigung gegen alles Fremde.
Nun könnte man es sich einfach machen und behaupten, solche Äußerungen wären einfach ideologisch motivierte Täuschungsversuche, ein bewusstes Zurechtbiegen der Wirklichkeit zum Zwecke politischer Missionierung. In dem einen oder anderen Fall mag das auch stimmen. Meistens spüre ich in den abstrusen Aussagen aber ehrliches Entsetzen darüber, dass viele Menschen die Regeln des Grundgesetzes einhalten, die Grünen wählen oder sich gar mit dunkelhäutigen Menschen anfreunden. Das kommt mir dann vor wie eine Autoimmunerkrankung, eine allergische Reaktion des Geistes: Da hat jemand als kleines Kind schon nicht gelernt, sich mit fremden Meinungen, mit nicht genehmen Tatsachen, mit Täuschung und Betrug auseinanderzusetzen, und jetzt als Erwachsener setzt ihn die nicht mehr verdrängbare Erkenntnis in Panik, dass sehr viele Menschen anders denken als man selbst und dass auch diese Menschen ihre Interessen vertreten. Dann können harmlose Anlässe Wut und Angstattacken auslösen und man hält das 15%-Wahlergebnis des politischen Gegners für so etwas wie einen Staatsstreich. Oder man hat davon gehört, dass auch Wikipedia-Artikel nicht immer ganz wertfrei sind und nun traut man sch gar nicht mehr dort nachzuschlagen und zieht lieber „Die Achse des Guten“ zu Rate.
Ich verstehe das alles ziemlich gut, denn auch ich bin jenseits jeder Streitkultur großgeworden und die kommunikativen Fähigkeiten meiner westdeutschen Sozialkontakte ängstigen mich oft und machen mich bockig. Sonst würd ich ja auch nicht immer wieder auf den lächerlichen Seiten derer nachlesen, denen es auch so geht.

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